Sonntag, 26. Januar 2014

Indien - unser Fazit

Nach fast zwei Monaten Indien ist Zeit, ein Fazit zu ziehen. Wir sitzen jetzt in Bangkok und fangen an, etwas Abstand zu gewinnen. Trotzdem, ein Fazit ist gar nicht so einfach - zu vielseitig ist das Land. Der Text ist daher etwas länger als normal...


Zeitreise

Reisen in Indien ist wie eine Zeitreise. Auf dem Land sieht man auf den Strassen Frauen, die Holz oder Wasser auf dem Kopf balancieren, Kinder die Schaf- oder Ziegenherden vorantreiben, Wasserbüffel auf der Suche nach Futter und Männer mit Handwagen die Obst und Gemüse feilbieten. Auf den Feldern pflanzen Frauen Reis von Hand ein, Ochsen werden im Kreis geführt um Wasser hochzupumpen oder ziehen einen Pflug. In den Städten herrschen nachts Hunderudel und der Müll wird verbrannt. Das alles erscheint mir wie aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts.



Auf dem Land in Rajasthan

Und das ist die "moderne" LKW-Flotte


Auch die sozialen Normen scheinen mir aus der Zeit meiner Großeltern. Frauen müssen sich züchtig bedecken und für die Familie kochen. Die Männer- und Frauenwelten sind streng getrennt. Glaube und Aberglaube sind allgegenwärtig. Es gibt Verhaltenskodexe innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften bzw Kasten. Diese sorgen, ähnlich wie im Dorf meiner Großmutter, für Zusammenhalt. Man kann sich aufeinander verlassen und steht für einander ein. Folgt man dem Kodex jedoch nicht, wird geredet und man wird ausgegrenzt.

Gleichzeitig sieht man Autos, LKWs und Traktoren auf den Strassen. In den Städten sieht man Jugendliche mit Smartphones und junge Paare die für europäische Firmen und zu MEZ arbeiten. Oft legen diese weniger Wert auf die Traditionen und den Verhaltenskodex ihrer Gemeinde/Kaste. Sie reisen, nach Europa oder in andere indische Staaten. In den Städten sind die Menschen technologisch auf einem ähnlichen Stand wie wir. Trotzdem: Zunächst wirken viele Inder zwar westlich, sind aber meist dennoch indisch-konservativ, auch die Jungen.


Indien ist authentisch

Was mir an Indien gefällt ist, dass Indien Indien ist und bleibt. Viele Entwicklungsländer streben nach westlichem Vorbild und verlieren dabei viel ihrer eigenen Kultur. Indien hingegen schafft es die Moderne zu umarmen ohne seine Wurzeln zu verlieren.

Das sieht man schon auf dem ersten Blick, denn die Mode hier ist ganz anders als im Westen. 95% der Frauen tragen traditionelle Kleidung wie Saris und Salvar Kamis. Auch den berühmten roten Punkt zwischen den Augen, der böse Blicke abwehren soll, wird von den meisten Frauen und manchen Männern getragen. Die Männer tragen in den Städten zwar gerne Hemd und Stoffhose, auf dem Land sieht man aber auch noch Männerröcke. Turbane haben wir nur im Norden des Landes gesehen.

Frauen bei einer Hochzeit. 


Richtig geschmackvoll angezogen finden wir die Inder aber selten. Die Saris koennen zwar wirklich schick sein, wenn dazu aber Latschen mit Zehensocken getragen werden, hilft das auch nicht. Die Männer tragen meist dunkle Plastikschuhe in Lederoptik mit weissen Socken. Wenn es unter 15 Grad kalt ist tragen die Inder lustige Wollmützen oder Ohrenwärmer.

Geschäftiges Indien

Ein Lieblingsthema von uns Deutschen - und von Thorben als Unternehmensberater erst recht: Effizienz. Das Wort ist hier eher ein Fremdwort. Als Deutsche muss man sich an ein anderes Tempo in Indien gewöhnen. Dinge brauchen einfach länger hier. Zum Beispiel brauchten wir für eine 140km Strecke im Auto 5 Stunden. Für einen Job der in Deutschland von einer Person erledigt wird, braucht man hier drei Leute, mindestens. Auch an die starre Hierarchien muss man sich gewöhnen. In den Restaurants gibt es Kellner die mit den Gästen in Kontakt sind und welche die nur das Geschirr abräumen. Der Ton von oben nach unten ist rauh - etwas, was wir als sehr unangenehm empfinden. Auch muss man sich daran gewöhnen, dass Dinge hier erst nicht zu klappen scheinen aber letztlich doch irgendwie funktionieren. Man braucht also jede Menge Geduld hier, das erspart einen einige graue Haare.


Indien als Reiseland

Indien ist wirklich spannend. Wir können aber auch sagen, dass Indien nicht entspannend ist, wenn man nicht grade in Goa ist. Die Straßen sind schlecht, Bürgersteige meist nicht vorhanden oder in schlechtem Zustand. Hunde und Kühe sind fast überall und hinterlassen ihre Haufen. Selbst Menschen sieht man ab und an ihre Notdurft am Wegesrand verrichten, jedenfalls in den ärmeren Gegenden. Müll wird dort fallen gelassen wo er entsteht.

Obwohl wir eigentlich Städte gerne zu Fuß erkunden, haben wir uns das in Indien weitestgehend abgewöhnt. Man läuft nur über Müllberge, Hunde kläffen einen an und nach 20min auf der Strasse hat man so viele Abgase eingeatmet wie in Frankfurt in einer Woche. Ausserdem ist man voller Staub und muss sich die ganze Zeit konzentrieren um nicht unter die Räder zu kommen oder in einen Haufen zu treten. Man muss sich also darauf beschränken, sich mit dem Taxi von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit fahren zu lassen.
Popstar Barbara am See von Mt. Abu


So interessant wie wir die Inder fanden, so interessant fanden sie uns. Um es drastischer zu formulieren: wir wurden meistens angestarrt. Meistens fand ich das nicht weiter schlimm, vor allem bei Kindern und Frauen hat es mich nicht gestört. In Deutschland würden wir auch exotische Menschen mit Turban und Saris nachschauen, vielleicht etwas unauffälliger. Wenn jedoch eine Gruppe Männer zu mir rüber starrte bekam ich schon ein ungutes Gefühl und wechselte die Strassenseite. In Indien sind eigentlich 90% der Menschen auf der Strasse Männer. Ein komisches Gefühl als Frau.

Nachdem ich mich aber in unserem Viertel in Bangalore auskannte, viel die ständige Anspannung von mir ab. Den meisten Stress macht man sich selber im Kopf. Trotzdem, selbst die einheimischen Frauen vermeiden einsame Strassen und sind bei Dunkelheit nicht mehr draußen. An diese Regeln haben auch wir uns gehalten und hatten letztlich keine unangenehmen Begegnungen.


Einzig in einem privaten Überlandbus in Rajasthan, der hauptsächlich von Einheimischen genutzt wurde, hatte ich ein ungutes Gefühl. Dort quetschten sich 60 Leute in einen Bus der für 30 Leute gebaut wurde. Über den Sitzplätzen befanden sich Liegeplätze. Am Anfang waren fast nur Männer im Bus und viele starrten mich an. Als dann noch jemand anfing zu rauchen und ich mir vorstellte, dass ich bei einem Brand sicherlich Probleme hätte aus dem übervollen Bus zu kommen, war ich kurz davor auszusteigen. Nach einigen Stops stiegen dann aber viele Männer aus und Kinder und Frauen ein. Das fand ich wesentlich angenehmer. Insgesamt ist es als Frau in Indien auf der Strasse etwas beklemmend. Ohne Thorben bin ich fast nirgendwo hingegangen.

Für Individualreisende wie uns ist Indien also vor allem anstrengend. Es gibt zwar lohnende Sehenswürdigkeiten, aber im Vergleich zu Südost-Asien fehlt die Entspanntheit, die Hygiene ist so, dass man sich Straßenessen besser verkneift, und eigentlich ist fast alles was nicht mehr als hundert Jahre alt ist unglaublich hässlich (sogar der Burggraben vom berühmten Agra-Fort ist fast komplett mit Müll gefüllt).


Armut

Auch die Armut wollen wir ansprechen. Man sieht jede Menge davon, wenn auch nicht so viele Bettler wie gedacht. Viele Touristen verdirbt die überall präsente Armut die Freude an Indien. Es ist schon bedrückend, wenn man aus dem Taj Mahal herauskommt, einem Monument der Schönheit, und direkt davor nur schäbige Hütten, streunende Hunde, Müllberge und verwahrloste Menschen vorfindet. Und das sind noch nicht mal die Leute, denen es wirklich schlecht geht. Diese Leute haben im!erhin kleine Geschäfte und ein Dach über dem Kopf.

Die Menschen die wirklich arm sind leiden permanent Hunger und zittern im Winter vor Kälte. Eines morgens in Udaipur warteten wir durchgefroren auf einen Bus, nachdem wir die Nacht im Hotel mit FleecePulli und Kapuze unter einer Decke und neben einem Heizstrahler verbracht hatten. Da kam ein Mädchen barfuss, mit filzigen Haaren und nur mit Lumpen bekleidet und bat uns um Geld. Wir hatten uns vorgenommen Kindern kein Geld zu geben. Aber wie konnten wir diesem Kind nichts geben? Ich kaufte ihr einen Kuchen, das gesundeste was es an dem einzigen Kiosk gab. Sie strahlte vor Freude. Mir brach es das Herz. Es gibt hier so viel Armut, dass man sich ohnmächtig fühlt. Aber die Arbeit in Bangalore hat mir auch Hoffnung gegeben, dass sich die Dinge ändern werden und auch diese Kinder eine Chance bekommen können.


Gastfreundschaft

Und zu guter letzt das was Indien für uns lohnenswert macht: Indische Gastfreundschaft ist sagenhaft. Wir wurden in mehr Häuser eingeladen als wir in den zwei Monaten hätten besuchen können. Nicht nur alle Freunde und Familien von Rama luden uns ein. Auch unsere Mitreisenden im Übernachtzug von Jaisalmer nach Dellhi luden uns zu sich nach Hause ein - und die Einladung war sehr ernsthaft gemeint. Wir erfahren hier so viel ehrliche Gastfreundschaft, dass wir gerne zurück kommen wollen (aber nicht als Touristen). Inder gleichen ihr rauhes, unfreundliches Land damit aus, dass sie innerhalb der Familien und Freundeskreise sehr aufeinander achten. Wer also die Chance hat, mit "Kontakten" nach Indien zu gehen, der sollte das unbedingt tun. Man wird ein komplett anderes Land kennenlernen als man es als Tourist könnte.
Sylvester auf dem Dach in Bangalore




Change is on


  1. Wir sind uns sicher, dass das Land in ein paar Jahren wesentlich besser dastehen wird als jetzt. Immer mehr Menschen erhalten Bildung. Und vor allem sind Inder sehr proaktiv und geschäftstüchtig. An jeder Ecke gibt es etwas zu kaufen. Es findet sich immer jemand der etwas für einen erledigen kann, für einen kleinen Obulus. Und jeder hat irgendeine Geschäftsidee. Change is on, wie der Slogan von Parikrma besagt.


Barbara

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen